Flüchtende russische Familie bei Stalingrad, 1942
Migrations- und Fluchtbewegungen waren schon immer Teil der Menschheitsgeschichte. Im 20. Jahrhundert entwickelten diese jedoch eine ganz neue Dimension. Zwei Weltkriege von bis dahin ungekannter Brutalität und Reichweite, dazu Diskriminierung und Terror gegen ethnische und religiöse Minderheiten sowie Vertreibung, Armut und Hunger – allein in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren in Europa etwa 60 Millionen Menschen von Flucht betroffen.
Als nach der Gründung der beiden deutschen Staaten 1949 eine wachsende Anzahl an Menschen aus der DDR in die Bundesrepublik Deutschland übersiedelte, riegelte die Ost-Berliner Führung systematisch alle Grenzen in diese Richtung ab. Trotzdem gelang es weit mehr als drei Millionen Menschen, in den Westen zu fliehen, den meisten von ihnen zwischen 1949 und 1961. Der Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 machte eine Flucht aus der DDR nahezu unmöglich. Viele bezahlten den Versuch mit ihrem Leben oder wurden allein für die Planung einer Flucht von der DDR-Staatsmacht inhaftiert. Die deutsche Teilung endete erst im November 1989 mit der Öffnung der Grenze und dem Fall der Berliner Mauer.
S-Bahn-Einfahrt in den Ostsektor: Mauerdreieck Liesenstraße/Gartenstraße im Jahr 1980
Tausende DDR-Bürger strömten im November 1989 über die geöffneten Grenzübergänge.
Wer seinen Herkunftsort verlässt, um sich vorübergehend oder dauerhaft an einem anderen Ort niederzulassen, versucht dadurch meist die eigene Lebenssituation zu verbessern. Man spricht von Migration. Migranten nehmen bewusst den Verlust ihrer Heimat, ihres Besitzes und oft auch aller sozialen Bindungen in Kauf. Viele von ihnen gehen ein hohes persönliches Risiko ein, da der Weg häufig ungewiss und mitunter gefährlich ist. Sie lassen sich darauf ein, ihr Leben grundlegend zu verändern und dafür vieles neu zu erlernen: eine fremde Sprache, ungewohnte Regeln, einen anderen Beruf, ja sogar neue Werte, Sitten und Bräuche.
Die meisten Migranten treffen diese folgenschwere Entscheidung nicht freiwillig. Wenn drohende oder tatsächliche Gewalt das Bleiben unmöglich macht, spricht man auch von Gewaltmigration. Dazu gehören erzwungene Umsiedlungen, Deportationen und Vertreibungen, vor allem aber Flucht. Als fluchtauslösende Gewaltereignisse erleben Menschen Krieg, Terror oder Verfolgung. Aber auch Diskriminierung, die Einschränkung von Freiheits- und Teilhaberechten oder die Zerstörung ihrer materiellen Lebensgrundlage können Menschen in die Flucht treiben.
Meist veranlassen Gewaltereignisse nicht nur einzelne Personen zur Flucht, sondern ganze Gruppen oder sogar die gesamte Bevölkerung einer Region. Fluchtbewegungen verlaufen in unterschiedliche Richtungen, auf unterschiedlichen Wegen und mit verschiedenen Zwischenstationen. Sie unterscheiden sich in der Anzahl der Flüchtenden, in deren Geschwindigkeit und Reichweite. Oft wissen die Flüchtenden voneinander und informieren sich gegenseitig über Erfahrungen und Gefahren, so dass sich Fluchtbewegungen sehr dynamisch entwickeln und schwer zu beeinflussen sind.
Die Fluchtbewegungen der letzten Jahrzehnte resultierten oft aus Terror und Bürgerkriegen, in denen die Konfliktparteien keine Rücksicht auf die Zivilbevölkerung nahmen. Ein Beispiel dafür ist der syrische Bürgerkrieg, vor dem seit 2011 über sechs Millionen Menschen ins Ausland flohen. Laut dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) waren im Jahr 2020 insgesamt etwa 80 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Die meisten von ihnen waren sogenannte Binnenflüchtlinge – sie flohen also innerhalb des eigenen Landes – oder sie lebten in einem unmittelbar angrenzenden Nachbarland. Nur wenige Flüchtende gelangen nach Europa mit seinen streng gesicherten Außengrenzen.
Flüchtlingsboot vor Griechenland im Jahr 2015
ANJO KAN
Als Reaktion auf die Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus und die massiven Flüchtlingsströme nach dem Zweiten Weltkrieg verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Sie umfasst unter anderem das Recht auf Freizügigkeit und das Recht auf Asyl. Drei Jahre später unterzeichneten die Mitglieder der UN die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und legten damit erstmals verbindlich fest, welche Rechte anerkannte Flüchtlinge in den Unterzeichnerstaaten haben. Allerdings definiert die GFK sehr eng, wer als Flüchtling anerkannt wird. Deswegen bleibt die Lage Flüchtender in vielen Staaten prekär.
Ob im Herkunftsland oder in den sogenannten Transitländern, welche auf dem Weg durchreist werden, – für Menschen auf der Flucht ist es schwierig, unterwegs ihre Rechte wahrzunehmen und durchzusetzen. Sie werden von Familienmitgliedern getrennt, an der Aus- oder Weiterreise gehindert, verfolgt, eingesperrt, vertrieben, ausgebeutet, missbraucht oder diskriminiert. Sie haben oftmals kaum Möglichkeiten, sich dagegen zu wehren. Die Suche nach einem sicheren Ziel scheitert nicht selten daran, dass Länder nicht bereit sind, Menschen auf der Flucht aufzunehmen.
Im Zielland sind Geflüchtete der einheimischen Bevölkerung in aller Regel zunächst nicht gleichgestellt. Beispielsweise dürfen sie ihren Wohnort nicht frei wählen und nur unter Auflagen einer bezahlten Arbeit nachgehen. Im Alltag sind sie häufig Diskriminierung und Fremdenhass ausgesetzt. Je nach Region erhalten sie Unterstützung vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR), von staatlichen Stellen des Ziellandes, von Hilfsorganisationen oder engagierten Mitmenschen vor Ort.
In Deutschland und anderen europäischen Staaten prüfen die Behörden auf Antrag, ob Migranten als Flüchtlinge gemäß der GFK anerkannt werden oder Asyl erhalten. Alternativ können sie auch einen vorübergehenden sogenannten subsidiären Schutz erhalten, falls ihnen bei Abschiebung in ihr Heimatland Todesstrafe oder Folter drohen. Voraussetzung für die Antragstellung in Deutschland ist aber in der Regel, dass die Flüchtenden nicht über andere EU-Staaten eingereist sind. Wer über ein anderes EU-Land kam oder keinen Flüchtlings- bzw. Schutzstatus geltend machen kann, darf durch die Behörden abgeschoben werden. Den über drei Millionen Menschen, die zwischen 1949 und 1989 aus der DDR in die Bundesrepublik kamen, blieb ein Asylverfahren erspart. Nach dem Grundgesetz waren sie als Deutsche immer schon Bürger der Bundesrepublik Deutschland, da die DDR von der Bundesrepublik völkerrechtlich nie anerkannt wurde. Abschiebung drohte ihnen daher nicht.
Eleanor Roosevelt, die Ehefrau des früheren US-amerikanischen Präsidenten Theodore Roosevelt, mit dem Abdruck der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte im November 1949
Im Jahr 2015 erreichte die Zahl der neuen Flüchtlinge in Deutschland einen Höhepunkt: Ungefähr 890.000 Menschen suchten in Deutschland Zuflucht. Die Hälfte davon stellte 2015 erstmals einen Antrag auf Asyl. Die meisten Antragsteller kamen aus der Kriegsregion Syrien – mit etwa 159.000 jedoch immer noch ein kleiner Teil aller syrischen Bürgerkriegsflüchtlinge. Für die Geflüchteten und für die aufnehmende Gesellschaft bleibt diese Situation eine Herausforderung. Debatten über politische Konzepte, Menschenrechte, Diskussionen über Fremdenhass und Integration prägen seither die öffentliche Auseinandersetzung zum Thema Flucht.
Ankunft von Flüchtlingen von der deutsch-österreichischen Grenze mit einem Sonderzug der Deutschen Bahn am Flughafen Köln/Bonn im Jahr 2015
Transparent an der Fassade des Niedersächsischen Ministeriums für Umwelt, Energie und Klimaschutz in Hannover im Jahr 2015
Hauptsitz des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg