Bodo Gerth
Bodo Gerth erlebte bereits sehr bewusst die nationalsozialistische Terrorherrschaft und den Zweiten Weltkrieg in seiner Heimatstadt Leipzig. Die Zahnarztpraxis seines Vaters befand sich am Dittrichring, direkt gegenüber der Großen Gemeindesynagoge in der Gottschedstraße, welche die Nationalsozialisten in der Nacht vom 09. auf den 10. November 1938 in Brand setzten. Genau wie viele andere Leipziger sah Bodo Gerth als Kind mit eigenen Augen, wie die Nationalsozialisten die Juden der Stadt verfolgten und deportierten – darunter ganze Familien mit ihren Kindern. Einige der Opfer kannte er aus dem Wartezimmer der väterlichen Praxis.
Zum Schutz vor dem Krieg und alliierten Bombenangriffen zog die Familie 1943 in ihr Landhaus im Osten der Stadt. Sobald es nach Kriegsende wieder möglich war, kehrten die Gerths in ihre Wohnung zurück und Bodo Gerth setzte den Besuch der Leipziger Thomasschule fort. Nach dem Abitur nahm er ein medizinisches Studium auf, um genau wie sein Vater Arzt zu werden und dessen Praxis zu übernehmen.
Karriere in Rostock
„Ich war mit Leib und Seele Arzt und hatte es geschafft durch meine umfangreiche Ausbildung als approbierter Zahnarzt, approbierter Pathologe und approbierter Hals-Nasen-Ohren-Arzt (HNO) eine leitende Position als Erster Oberarzt an der Universitätsklinik für HNO in Rostock einzunehmen.
Als Pathologe leitete ich das histologische Labor mit viel wissenschaftlicher Arbeit, im OP oblagen mir die schwierigsten Operationen, wie die umfangreiche Kopf- und Tumorchirurgie. Ich stellte die Kontakte zu namhaften Professoren aus der Bundesrepublik her und organisierte internationale Kongresse in Rostock von großer medizinischer Bereicherung. Meine Vorlesungen bereitete ich mit Sachverstand und Zuneigung für die Studenten und Studentinnen vor, ebenso für die Ausbildung der Krankenschwestern an der Schwesternschule.
Seit dem Mauerbau 1961 nahm der politische Druck auf die Ärzte besonders an den Universitäten spürbar zu. Ich konnte mich bis zu dem Zeitpunkt aus der politischen Indoktrinierung ziemlich heraushalten. Zwischen Arzt und Kranken sowie zwischen Dozenten und Studenten gab es in den 1950er Jahren wenig Einmischung. Ich hatte als Arzt die Überzeugung, mich keiner politischen Richtung anzuschließen.
Ich war aus ethischen Gründen Christ, fühlte mich wohl in der Johannisgemeinde in Rostock und sang im Figuralchor als Ausgleich zu meiner ärztlichen Tätigkeit. Diese Gemeinde war unsere private kulturelle christliche Oase und Heimat, auch für unsere beiden Kinder, Andreas und Carolin.“
Erinnerungsbericht von Bodo Gerth
Auftritt des Figuralchors Sankt Johannes im Januar 1972 in Rostock
Bodo Gerth
Der von Deutschland ausgelöste Zweite Weltkrieg führte im Mai 1945 zur bedingungslosen Kapitulation und der vollständigen Besetzung des Landes durch die Allianz der Siegermächte USA, Großbritannien, Frankreich und Sowjetunion. Die NS-Herrschaft hatte ein unvorstellbares Maß an Zerstörung hinterlassen. Die Verbrechen des sogenannten Dritten Reiches, die mindestens 60 Millionen Todesopfer forderten, schlossen Deutschland auf lange Zeit aus der Gemeinschaft zivilisierter Staaten aus. Nach Abtrennung eines beträchtlichen Teils des deutschen Staatsgebietes bildeten die Alliierten aus den verbliebenen Territorien vier Besatzungszonen. Die Reichshauptstadt Berlin sollte von den vier Siegermächten gemeinsam verwaltet werden.
Schon bald nach Kriegsende wandelte sich die Zusammenarbeit der Anti-Hitler-Koalition jedoch in eine Konfrontation, die in den Kalten Krieg mündete. Die Folge war die Gründung zweier deutscher Separatstaaten nach den Vorgaben der jeweiligen Besatzungsmächte im Jahr 1949.
Die Lage im geteilten Deutschland hing bis 1990 immer von den internationalen Rahmenbedingungen ab. Die Bedingungen der Teilung und die Perspektiven einer künftigen Wiedervereinigung konnten von den Deutschen in Ost und West nur wenig beeinflusst werden. Beide deutsche Staaten waren in gegnerische wirtschaftliche und militärische Allianzen eingebunden und befanden sich politisch und gesellschaftlich in scharfer Systemkonkurrenz. Trotzdem blieben gemeinsame historische und kulturelle Wurzeln weiter bestehen.
Die DDR versuchte ab Mitte der 1960er Jahre alle gesamtdeutschen Bezüge in Staat und Gesellschaft zu beseitigen. Die Bundesrepublik hielt dagegen offiziell immer am Ziel der deutschen Wiedervereinigung fest, auch wenn diese Perspektive vielen Westdeutschen immer weniger realistisch erschien. Insbesondere für DDR-Flüchtlinge war die nach bundesdeutschem Recht weiterbestehende gemeinsame deutsche Staatsbürgerschaft von großer Bedeutung.
Gerths anfängliche Euphorie über die neue Stelle an der Ostsee wich bald der ernüchternden Erkenntnis, dass er in seiner neuen Position als Oberarzt an der Rostocker Universitätsklinik nicht einfach forschen, lehren und Patienten behandeln konnte, sondern auch neuen politischen Zwängen unterworfen war.
In Rostock erlebte Bodo Gerth, wie es zunehmend schwierig wurde, sich unpolitisch zu verhalten, ohne dadurch Repressionen ausgesetzt zu sein. Er bemühte sich, seinen Kindern ein unbeschwertes Aufwachsen zu ermöglichen. Aber sein Sohn hatte schon in der Grundschule erhebliche Nachteile, weil er neben den Jungpionieren auch die Christenlehre besuchte. Für Bodo Gerth selbst stieg als Universitätsoberarzt der Druck, sich in der Arbeit und im Privatleben politisch konform zu geben, die Ziele der Partei aktiv zu unterstützen.
Bodo Gerth 1972 mit seinen Kindern beim Eislaufen
Bodo Gerth
Politisierung der Universität
„Die politische Einflussnahme war zum Beispiel die Pflicht als Dozent, zu Beginn des Studienjahres eine politische Vorlesung über den SED-Parteitag und den Fünf-Jahresplan zu halten. Da waren auch Kontrolleure von der Fakultät für Leninismus/Marxismus unter den Studenten.
Ich musste auf dem Ersten-Mai-Marsch mitmarschieren und eine Anwesenheitsliste meiner mir als Mentor anvertrauten Studenten abliefern. Ich bekam politische aktuelle Themen vorgeschrieben, die ich mit meinen Studenten zu diskutieren hatte, mit schriftlicher Zusammenfassung, die ich abliefern musste.
Um dem Druck, einem SED-Beitritt und ebenfalls dem Vorwurf, keine gesellschaftliche Arbeit zu leisten, zu entgehen, engagierte ich mich in der Konflikt-, Wettbewerbs- und Prognosekommission, außerdem in der Kommission für das „Sozialistische Kollektiv“, und ich trat Ende der 1960er Jahre in den FDGB ein.
Die Repressionen nahmen immer mehr zu. Für meine Habilitation sollte ich einen wissenschaftlichen Aufenthalt in der Sowjetunion absolvieren. Der wurde mir nicht genehmigt, weil meine Verwandtschaft außer meinem Vater in der Bundesrepublik lebte. Ich bekam auch keine Genehmigung zu Kongressen ins westliche Ausland.
Meine wissenschaftlichen Vorträge hielten Kollegen – SED-Parteigenossen, sogenannte Reisekader – auf Kongressen im westlichen Ausland zum Beispiel in Uppsala und in Salzburg.“
Erinnerungsbericht von Bodo Gerth
Für die DDR-Bevölkerung gehörte politische Beeinflussung zum Alltag. Die Staats- und Parteiführung strebte an, in Zusammenarbeit mit pädagogischen Einrichtungen und Massenorganisationen jeden einzelnen Menschen ideologisch zu prägen. Ihr Ziel war es, „sozialistische Persönlichkeiten“ zu schaffen, die die eigenen Bedürfnisse gegenüber der Gesellschaft zurückzustellen hatten. Niemand in der DDR konnte sich der politischen Propaganda dauerhaft entziehen, ohne mit Benachteiligungen rechnen zu müssen.
Die Indoktrination begann oft schon im frühesten Kindesalter. In staatlichen Kindergärten lernten Kinder, „böse Kapitalisten“ würden die Arbeiter in der Bundesrepublik ausbeuten, wohingegen das Wirtschaftssystem der DDR das Wohl der gesamten Bevölkerung im Blick habe.
Solche ideologische Manipulation fand auch in der Schule, während der Berufsausbildung und später in den Arbeitskollektiven statt. Jugendliche sollten in der 1978 als Pflichtfach eingeführten „sozialistischen Wehrerziehung“ Hass auf den „Klassenfeind“ im Westen entwickeln und sich über die Wehrpflicht hinaus für einen längeren Dienst in der Nationalen Volksarmee (NVA) bereit erklären.
Mit Losungen wie „Mein Arbeitsplatz – Mein Kampfplatz für den Frieden!“ oder „Bürger der DDR! Mit neuen Ideen und Taten für die Stärkung unseres sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaates!“ zu Parteitagen, vor Demonstrationen, in Zeitungen oder an Gebäuden und Brücken versuchte sie den Sieg des Sozialismus und die Überlegenheit sozialistischer Politik hervorzuheben.
Dabei regierte in der SED-Propaganda der Superlativ. Jeder wirtschaftliche Erfolg war der Gewaltigste, jedes abgelaufene Jahr DDR-Geschichte galt als „historisch“ und als eines der bisher Erfolgreichsten. Die ständigen Erfolgsmeldungen standen im scharfen Kontrast zu der von immer mehr Menschen als bedrückend empfundenen gesellschaftlichen Realität. Den Propaganda-Superlativen schenkte demzufolge ein stetig kleiner werdender Teil der Bevölkerung Glauben.
Im Frühjahr 1968 war der Blick vieler DDR-Bürger auf die politische Entwicklung in den beiden sozialistischen Nachbarstaaten gerichtet. Die polnische Führung ließ studentische Proteste gegen die kommunistische Diktatur brutal niederschlagen und zahlreiche Systemkritiker verhaften. In der Tschechoslowakei kam es indessen nach einem Führungswechsel in der Kommunistischen Partei (KPČ) innerhalb weniger Monate zu einer weitreichenden Liberalisierung. Dazu zählten Meinungs- und Informationsfreiheit, Wirtschaftsreformen und eine Aufarbeitung der Verbrechen des Stalinismus. Am gesellschaftlichen Aufbruch, der vom Traum eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ getragen wurde, beteiligte sich eine große Mehrheit der Tschechen und Slowaken.
Obwohl DDR-Zeitungen Lügen über angeblich vom Westen gesteuerte „konterrevolutionäre Entwicklungen“ in Prag verbreiteten, verfolgten viele Menschen in der DDR die Ereignisse mit Sympathie und erhofften sich ähnliche Reformen im eigenen Land.
Am 21./22. August 1968 marschierten die von der Sowjetunion geführten Truppen des Warschauer Paktes in der Tschechoslowakei ein und beendeten den sogenannten Prager Frühling gewaltsam. Die Niederschlagung löste in der ganzen DDR Proteste aus, nicht zuletzt aufgrund der Vermutung, auch Einheiten der Nationalen Volksarmee hätten die Grenze zur Tschechoslowakei überschritten. Die Vorstellung, deutsche Soldaten würden wenige Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg wieder Gewalt gegen den „Bruderstaat” anwenden, erschien vielen jungen Menschen in der DDR unerträglich.
Etwa 1.000 Kritiker der Niederschlagung wurden in der DDR inhaftiert, weil sie Flugblätter in Umlauf gebracht oder Sympathiekundgebungen für die Reformer an Häuserwände gemalt hatten. Der Protest in der DDR wurde mehrheitlich von Arbeitern und Angestellten getragen. Unter den Verhafteten befanden sich nur wenige Studenten und Intellektuelle. Anfang 1969 waren noch 447 Personen wegen derartiger Aktivitäten in Haft.
Nachdem Bodo und Gunhild Gerth keine Perspektive mehr für sich selbst und ihre Kinder in der DDR sahen, entschieden sie sich, mit der ganzen Familie das Wagnis einer Flucht in die Bundesrepublik Deutschland einzugehen. Sie unternahmen zwei Versuche, bei beiden unterstützt von Verwandten im Westen.
Die damalige SED-Parteizeitung NEUES DEUTSCHLAND veröffentlichte regelmäßig abschreckende Berichte zu misslungenen Fluchten und ihren Folgen. Im Jahr 1973 erschienen mehrere Artikel zur Fluchthilfeorganisation Löffler, die im gleichen Jahr auch den Gerths bei ihrer Flucht helfen sollte. In Schauprozessen wurden die Fluchthelfer als „kriminelle Menschenhändler“ zu hohen Haftstrafen verurteilt.
Neues Deutschland, 06. November 1973, Seite 2
Viele fluchtwillige Bürger nutzten die Hilfe Dritter, um aus der DDR zu entkommen. Die Formen der Unterstützung waren vielfältig. Fluchthelfer besorgten gefälschte Pässe, gruben aufwändig Tunnel, nahmen die Flüchtlinge auf Booten mit oder schmuggelten sie in Kofferräumen und umgebauten Autos über die Grenze.
Zahlreiche Fluchthelfer handelten aus Solidarität, unter ihnen auch Freunde, Bekannte und Familienangehörige aus dem Westen, die zuvor selbst aus der DDR geflohen waren. Kommerzielle Fluchthelfer hingegen, die auf eigene Faust oder in professionellen Gruppen arbeiteten, verlangten hohe Geldbeträge für ihre Ausschleusungsdienste.
Fluchthelfer nahmen ein hohes persönliches Risiko in Kauf. Das Ministerium für Staatssicherheit verübte Mordanschläge auf einige von ihnen und schleuste Spitzel in Fluchthilfeorganisationen ein. Wer als Helfer verhaftet wurde, musste mit langen Haftstrafen wegen „staatsfeindlichen Menschenhandels“ rechnen.
Erst nach dem Ende der DDR und der Öffnung der Akten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) erfuhr Bodo Gerth, dass das MfS ihn schon in den Jahren vor der Flucht überwacht und mit seiner Flucht gerechnet hatte. Mitarbeiter der Rostocker Universitätsklinik bespitzelten als Inoffizielle Mitarbeiter (IM) heimlich ihre Kollegen und fertigten über sie Berichte zu ihrem Berufs- und Privatleben an.
Bericht eines damaligen Kollegen Bodo Gerths – hier unter dem Decknamen IMV „Weber“ – vom 06. Februar 1973 an die Abteilung XX/3 des MfS. Gerths Kollege überwachte die Universitätsklinik Rostock und insbesondere Bodo Gerth mehrere Jahre lang.
BSTU, MFS-Akte Gerth, Blatt 33
IMV „Weber“ fertigte im Rahmen seiner Spitzeltätigkeit weitere Berichte über Bodo Gerth für das MfS an, beispielsweise am 08. Februar 1973 zu seiner Persönlichkeit und einer möglichen Fluchtbereitschaft.
BSTU, MFS-Akte Gerth, Blatt 35 bis 37
Wer in der DDR von der Stasi sprach, meinte damit das 1950 gegründete Ministerium für Staatssicherheit. Über Jahrzehnte ließ die SED-Führung das MfS zu einem flächendeckenden Überwachungs-, Manipulations- und Unterdrückungsapparat ausbauen, der ihren totalen Herrschaftsanspruch gegenüber der eigenen Bevölkerung sichern sollte. Das MfS richtete seine Aktivitäten nicht nur gegen die Bürger der DDR, sondern auch gegen die Bundesrepublik Deutschland als Staat sowie gegen Menschen und Organisationen im Ausland, die sich für die Einhaltung der Menschenrechte in der DDR einsetzten.
Das MfS war politische Geheimpolizei, Ermittlungsbehörde bei politischen Straftaten und Nachrichtendienst in einem. Dadurch besaß es umfassende Aufgaben und Kompetenzen, die keiner Kontrolle unterlagen. Lediglich die SED-Führung war gegenüber dem MfS weisungsberechtigt. Das MfS verstand sich als „Schild und Schwert der Partei“ und definierte diese Rolle in stalinistischer Tradition sehr weitreichend. Seine Mitarbeiter verfolgten nicht nur tatsächlich begangene „Taten“, sondern versuchten als eine Art „Ideologiepolizei” auch vorbeugend zu handeln. So zielte das MfS in den 1970er und 1980er Jahren auf eine möglichst flächendeckende Überwachung aller potenziellen Gegner und versuchte, oppositionelle Aktionen schon im Vorfeld zu verhindern. Dazu öffnete das MfS die Briefe verdächtiger Personen, hörte ihre Telefonate ab und ließ sie durch zahlreiche hauptamtliche und inoffizielle Mitarbeiter umfassend bespitzeln.
Auf diese Weise überwachten die Mitarbeiter des MfS das Leben und Verhalten der Menschen vom Beruf bis zur Intimsphäre. Dazu setzten sie alle zur Verfügung stehenden Mittel ein und wurden teils durch andere Institutionen wie Schulen, Betriebe und Gewerkschaften unterstützt. Gleichzeitig entwickelten sie Maßnahmenpläne, welche die „Zersetzung“ bestimmter Personen zum Ziel hatten.
Unter „Zersetzung“ verstand das MfS die „Zersplitterung, Lähmung, Desorganisierung und Isolierung feindlich-negativer Kräfte“. Der Betroffene sollte am Arbeitsplatz und in seinen persönlichen Beziehungen isoliert und diskreditiert werden, ohne das planvolle Handeln dahinter zu durchschauen. Das MfS stützte sich dabei auf Erkenntnisse der „operativen Psychologie“. Beispielsweise lösten inoffizielle Mitarbeiter gezielt interne Streitigkeiten in oppositionellen Gruppen aus, um sie von politischen Aktivitäten abzulenken.
Im Zuge des Zusammenbruchs der SED-Diktatur 1989/90 wurde das MfS am 18. November 1989 in Amt für Nationale Sicherheit umbenannt, schrittweise entmachtet und schließlich am 31. März 1990 aufgelöst. Seit 1992 dürfen Betroffene die Akten einsehen, die das MfS über sie angelegt hatte. Viele Menschen erfuhren erst bei ihrer Akteneinsicht vom Ausmaß der Überwachung, zum Teil durch Freunde oder engste Angehörige.
Nach der Verhaftung trennten die Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) Bodo und Gunhild Gerth voneinander. Ihre Kinder kamen in staatliche Obhut. Bodo Gerth hielten sie zunächst in der zentralen MfS-Untersuchungshaftanstalt in Berlin-Hohenschönhausen und später in Rostock fest. Neben den Haftbedingungen und den Verhören belasteten ihn die Sorgen um seine Familie, über deren Verbleib er wochenlang keinerlei Information bekam.
Foto einer rekonstruierten Einzelzelle in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen
Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen / Gvoon
Gerths 14-jähriger Sohn Andreas war in die Fluchtpläne seiner Eltern eingeweiht und wusste, dass er gegenüber Vertretern der Staatsmacht zu schweigen hatte. Seine 11-jährige Schwester Carolin dagegen wusste nichts, so dass die Verhaftung und die Trennung von ihrer Familie sie völlig unvorbereitet trafen.
Nach einigen Tagen in einem streng bewachten Ost-Berliner Kinderheim wurden beide Geschwister ins Waisenhaus „Egon Schulz“ in Rostock-Dierkow gebracht. Dreieinhalb Monate später gelang es ihrer über 70-jährigen Großtante, das Sorgerecht zu erhalten und die Rostocker Wohnung zu übernehmen, so dass die beiden Kinder wieder in ihr gewohntes Umfeld zurück konnten.
Innerlich wie betäubt
„Ich begann mich mit den stadtbekannten Rüpeln aus den oberen Klassen meiner Schule anzufreunden, die mich mit in die Rostocker Kneipen nahmen. Mein ganzes soziales Umfeld fing an zu vibrieren, ich hatte das Gefühl, endlich mitten im Leben angekommen zu sein.
Das brachte mich in den schweren moralischen Konflikt, dass es mir gut ging, während meine Eltern im Gefängnis saßen. Ich sandte manches Gebet in meinen Himmel, Gott möge mir meine Unfähigkeit zu trauern verzeihen. Ich war tatsächlich wie betäubt, ich konnte keinen Schmerz, keine Trauer spüren – an der Stelle war nur ein dumpfes, nicht greifendes Gefühlsknäul. In dieser ganzen Zeit wurde mir lediglich einmal eine Besuchserlaubnis von 15 Minuten für meinen Vater gewährt. Da saßen wir uns schon entfremdet gegenüber, während ein zwischen uns sitzender Offizier notorisch mit seinem Schlüsselbund spielte.“
Erinnerungsbericht ›Innerlich wie betäubt‹ des Sohnes Andreas Gerth, zitiert aus dem Interview ›Die beschädigte Adoleszenz‹ mit Andreas Gerth, geführt von Harald J. Freyberger, in: Trauma & Gewalt, Heft 4/2010, S. 320-325, hier: S. 323.
Erinnerungsbericht von Bodo Gerth
Die von Andreas Gerth beschriebenen Gefühle sind nach traumatisierenden Erlebnissen in autoritären politischen Systemen nicht unüblich. Im Fall der DDR erwiesen sich die Trennung von der Familie, das rücksichtslose Vorgehen der Staatsvertreter, drastische Veränderungen im Alltag und ungewisse Zukunftsaussichten nicht nur für politische Häftlinge als belastend, sondern auch für ihre Angehörigen und besonders ihre Kinder. Einer im Jahr 2012 vorgestellten Studie der Psychologinnen Grit Klinitzke und Maya Böhm zufolge leiden Kinder von ehemaligen politischen Häftlingen der DDR häufig noch Jahre oder Jahrzehnte später unter Depressionen, Angstzuständen, Verdrängung und anderen Symptomen einer Traumatisierung.
Bodo und Gunhild Gerth sahen sich erst bei der Gerichtsverhandlung in Rostock wieder. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit wurden beide zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt.
Bodo Gerths rekonstruierte Zelle in der Gedenkstätte Zuchthaus Cottbus mit Kunstinstallation von Jörg Beier und Gino Kuhn
Menschenrechtszentrum Cottbus e. V.
Bodo Gerth kam zunächst für etwa eineinhalb Jahre ins „Haftarbeitslager X“ in Berlin-Hohenschönhausen, wo ihn das MfS als Gefängnisarzt einsetze. 1975 wurde Gerth in die Strafvollzugseinrichtung Cottbus verlegt. Die Zugfahrt im sogenannten Grotewohl-Express dauerte fast zwei Tage. Dabei saß Bodo Gerth die ganze Zeit mit mehreren anderen Häftlingen in einem sehr engen und streng bewachten Zugabteil.
Der letzte erhaltene und restaurierte Gefangenensammelwaggon der DDR, ausgestellt in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen
Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen
Im September 1975 weckte ein Brief Bodo Gerths Hoffnung auf einen bevorstehenden Freikauf durch die Bundesrepublik Deutschland.
Bevor Bodo Gerth in die Bundesrepublik Deutschland ausreisen durfte, brachte man ihn zu seiner letzten Zwischenstation in die Haftanstalt auf dem Kaßberg in Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz).
Freikauf im Kontext der deutschen Teilung bezeichnet die Freilassung politischer DDR-Häftlinge aus dem Gefängnis gegen Waren, die die Bundesrepublik Deutschland an die DDR lieferte. Die meisten der freigekauften Häftlinge reisten nach ihrer Haftentlassung in die Bundesrepublik Deutschland aus. Aber auch Entlassungen in die DDR waren nicht selten, vor allem in den ersten Jahren nach Beginn des Freikaufs 1963.
Insgesamt kaufte die Bundesrepublik Deutschland zwischen 1963 und 1989 rund 33.000 politische Gefangene frei und zahlte für über 200.000 Ausreisegenehmigungen. Für jeden Häftling erhielt die DDR umgerechnet zwischen 40.000 und 96.000 D-Mark, in manchen Fällen auch mehr. Insgesamt belief sich der Wert der Gegenleistungen der Bundesrepublik für Freikauf und Ausreisen auf über 3,4 Milliarden D-Mark.
Mit der steigenden Anzahl freigekaufter Häftlinge sprach sich diese Praxis unter den DDR-Bürgern herum. Für viele Fluchtwillige entwickelte sich der Freikauf zu einer Perspektive, um im Falle einer Verhaftung doch noch nach Westen zu gelangen. Jedoch erfüllte sich diese Hoffnung längst nicht für alle politischen Häftlinge, die die DDR verlassen wollten. Als verlässliche Einnahmequelle trug der Freikauf dazu bei, die Zahlungsfähigkeit der DDR-Wirtschaft abzusichern.
Wer für den Freikauf vorgesehen war, verbrachte die letzten Tage der Haft in der Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit auf dem Kaßberg in Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz), wo sie vor der Ausreise in den Westen „aufgepäppelt“ werden sollten. Nach der Entlassung aus der DDR-Staatsbürgerschaft gelangten die freigekauften Häftlinge mit Bussen eines Gießener Busunternehmens in das dortige Notaufnahmelager.
Die historische Bewertung des Freikaufs ist abhängig vom Standort des Betrachters: Für die Bundesrepublik waren humanitäre Motive ausschlaggebend, die DDR handelte aus wirtschaftlichen Gründen mit Menschen und aus Sicht der Häftlinge war der Freikauf meist die einzige Möglichkeit, wieder ein Leben in Freiheit führen zu können.
Haftentlassungsschein von Bodo Gerth vom 22. Oktober 1975
Bodo Gerth
Nach den Gesetzen der Bundesrepublik Deutschland wäre Bodo Gerths Verurteilung nie rechtskräftig gewesen. Das Landgericht Rostock hob das Urteil daher 1993 rückwirkend auf.
BODO GERTH
Am 24. September 1975 kaufte die Bundesrepublik Deutschland zunächst Gunhild Gerth frei. Einen Monat später wurde auch Bodo Gerth freigekauft. Ihre Kinder Carolin und Andreas beantragten gleich nach der Ausbürgerung ihrer Eltern eine Familienzusammenführung. Doch es verstrichen für sie weitere quälende Monate, bis sie endlich die DDR verlassen und wieder zu ihren Eltern konnten. Andreas Gerth war inzwischen fast volljährig. Auch emotional war er seinen Eltern fremd – gewohnt, auf eigenen Beinen zu stehen und Autoritäten in Frage zu stellen.
Bodo und Gunhild Gerth 1976 bei der Abholung ihrer Kinder vom Lübecker Bahnhof
Bodo Gerth
Heute lebt Bodo Gerth als Rentner in München und setzt sich als Zeitzeuge für die Aufarbeitung der SED-Diktatur ein. Seine Familie unterstützt ihn dabei.
Das Interview mit Bodo Gerth wurde im Januar 2020 durch das Menschenrechtszentrum Cottbus e.V. am Wohnort des Zeitzeugen in München geführt und aufgezeichnet.
Wir danken Bodo Gerth und seiner Familie, dem Bundesbeauftragten für die Unterlagen der Staatsicherheit (BStU), der Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen und allen weiteren Rechteinhabern herzlich für die Erlaubnis zur Nutzung der Fotos, Interviewclips und Dokumente für das Projekt NUR FORT VON HIER.