STADTARCHIV BENSHEIM, FOTOSAMMLUNG, FOTOGRAF: W. SCHERMER
Als Karsten Köhler im Jahr 1953 als 15-Jähriger auf die Kurt-Steffelbauer-Oberschule Storkow kam, hatte er sechs Jahre Krieg erlebt, den Untergang des Nationalsozialismus, den Einmarsch der Roten Armee, die Teilung Deutschlands in vier Besatzungszonen und die Gründung der DDR im östlichen Teil des Landes. Beide Eltern standen dem neuen System kritisch gegenüber. Sein Vater kehrte erst in diesem Jahr aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft zurück und floh wenig später in die Bundesrepublik. Für Karsten war der Schulwechsel zunächst eine Chance, brachte aber auch Konflikte mit sich.
Der von Deutschland ausgelöste Zweite Weltkrieg führte im Mai 1945 zur bedingungslosen Kapitulation und der vollständigen Besetzung des Landes durch die Allianz der Siegermächte USA, Großbritannien, Frankreich und Sowjetunion. Die NS-Herrschaft hatte ein unvorstellbares Maß an Zerstörung hinterlassen. Die Verbrechen des sogenannten Dritten Reiches, die mindestens 60 Millionen Todesopfer forderten, schlossen Deutschland auf lange Zeit aus der Gemeinschaft zivilisierter Staaten aus. Nach Abtrennung eines beträchtlichen Teils des deutschen Staatsgebietes bildeten die Alliierten aus den verbliebenen Territorien vier Besatzungszonen. Die Reichshauptstadt Berlin sollte von den vier Siegermächten gemeinsam verwaltet werden.
Schon bald nach Kriegsende wandelte sich die Zusammenarbeit der Anti-Hitler-Koalition jedoch in eine Konfrontation, die in den Kalten Krieg mündete. Die Folge war die Gründung zweier deutscher Separatstaaten nach den Vorgaben der jeweiligen Besatzungsmächte im Jahr 1949.
Die Lage im geteilten Deutschland hing bis 1990 immer von den internationalen Rahmenbedingungen ab. Die Bedingungen der Teilung und die Perspektiven einer künftigen Wiedervereinigung konnten von den Deutschen in Ost und West nur wenig beeinflusst werden. Beide deutsche Staaten waren in gegnerische wirtschaftliche und militärische Allianzen eingebunden und befanden sich politisch und gesellschaftlich in scharfer Systemkonkurrenz. Trotzdem blieben gemeinsame historische und kulturelle Wurzeln weiter bestehen.
Die DDR versuchte ab Mitte der 1960er Jahre alle gesamtdeutschen Bezüge in Staat und Gesellschaft zu beseitigen. Die Bundesrepublik hielt dagegen offiziell immer am Ziel der deutschen Wiedervereinigung fest, auch wenn diese Perspektive vielen Westdeutschen immer weniger realistisch erschien. Insbesondere für DDR-Flüchtlinge war die nach bundesdeutschem Recht weiterbestehende gemeinsame deutsche Staatsbürgerschaft von großer Bedeutung.
Im Sommer 1952 beschloss die Führung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) offiziell den „Aufbau des Sozialismus“ in der DDR nach dem Vorbild der Sowjetunion. Weitgehende Eingriffe in das ökonomische und gesellschaftliche Leben gingen mit verstärkter Verfolgung politischer Gegner einher. Die Unzufriedenheit der DDR-Bevölkerung mit den politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen wuchs. Immer mehr Menschen verließen die DDR in Richtung der demokratischen Bundesrepublik.
Am 16. Juni 1953 forderten Bauarbeiter in Berlin die Rücknahme einer Erhöhung ihrer Arbeitsnorm, freie Wahlen und den Rücktritt der Regierung. Ein Volksaufstand gegen die SED-Diktatur begann. Einen Tag später kam es in der gesamten DDR zu Protesten.
Bis zum 21. Juni beteiligten sich in über 700 Städten und Gemeinden mehr als eine Million Menschen an Demonstrationen und Streiks. Demonstranten stürmten staatliche Einrichtungen und Parteigebäude. Es kam zu Brandstiftungen und Gefangenenbefreiungen. Angehörige aller sozialen Schichten beteiligten sich am Aufstand, darunter mehrheitlich Arbeiter.
Den DDR-Sicherheitsorganen entglitt die Kontrolle. Nur durch den Einsatz sowjetischer Truppen konnte der Aufstand niedergeschlagen werden. Mehr als 50 Protestierende wurden getötet. Auch Angehörige der paramilitärischen Kasernierten Volkspolizei, eines Vorläufers der 1956 gegründeten Nationalen Volksarmee der DDR, starben bei der Konfrontation mit den Aufständischen. Sowjetische Truppen und DDR-Dienststellen verhafteten etwa 15.000 Menschen, von denen mehr als 1.200 zu teils langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden. Mindestens 20 Aufständische wurden standrechtlich erschossen. Zehntausende DDR-Bürger flohen in die Bundesrepublik Deutschland, um einer Verfolgung zu entgehen.
Als Reaktion auf den Aufstand baute die SED ihren Macht- und Sicherheitsapparat erheblich aus und verschärfte die Repressionen gegen die Bevölkerung. Entgegen allen Tatsachen ging der 17. Juni 1953 als vom Westen gesteuerter „faschistischer Putsch“ in die DDR-Schulbücher ein.
Dreieinhalb Jahre nach dem Volksaufstand von 1953 stand die Klasse 12b der Storkower Oberschule kurz vor ihrem Abitur. Karsten Köhler, Klassensprecher und Internatsbewohner, war nicht der einzige in seiner Klasse, der das politische Geschehen genau verfolgte. Regelmäßig hörten die Jugendlichen heimlich das Nachrichtenprogramm des West-Berliner Radiosenders RIAS. Dadurch bekamen sie im Herbst 1956 mit, wie sich die ungarische Bevölkerung gegen die dortige Diktatur erhob und wie die sowjetische Armee kurze Zeit später die Demokratiebewegung blutig niederschlug.
Im Sommer 1956 war Ungarn als kommunistische Diktatur fest in den sowjetischen Machtbereich eingebunden. Doch angesichts der beginnenden Entstalinisierung in der Sowjetunion erhofften sich die Menschen in mehreren osteuropäischen Staaten eine Liberalisierung. Besonders ausgeprägt waren Freiheits- und Unabhängigkeitsbestrebungen in Polen und Ungarn.
In Budapest initiierten Studenten am 23. Oktober 1956 eine Großdemonstration. Die Teilnehmer forderten demokratische Rechte wie freie Wahlen, Meinungs- und Pressefreiheit sowie den Abzug der sowjetischen Truppen aus Ungarn.
Am Rundfunkgebäude fielen Schüsse auf Demonstranten. Daraufhin forderten Kämpfe zwischen Aufständischen und Einheiten des ungarischen Geheimdienstes erste Todesopfer. Bereits in der Nacht griffen sowjetische Truppen in die Auseinandersetzungen ein und besetzten zentrale Punkte in der Hauptstadt.
Obwohl mit der Berufung des Reformkommunisten Imre Nagy zum Ministerpräsidenten eine zentrale Forderung der Demonstranten erfüllt worden war, weitete sich der Aufstand an den Folgetagen aus. Auch die sowjetischen Einheiten konnten die Erhebung zunächst nicht niederschlagen und zogen sich schrittweise aus Budapest zurück. Nagy bildete die Regierung nochmals um, versprach politische Reformen und die Rückkehr zum Mehrparteiensystem. Am 01. November verließ Ungarn das sowjetisch geführte Militärbündnis Warschauer Pakt und erklärte seine Neutralität.
Drei Tage später griffen erheblich verstärkte sowjetische Truppen erneut Budapest und andere ungarische Städte an. Während sich die ungarische Armee von den Sowjets entwaffnen ließ, leisteten etwa 10.000 Aufständische erbitterten Widerstand gegen die Invasoren. Die Kämpfe dauerten bis zum 15. November. Insgesamt starben seit dem 23. Oktober etwa 3.000 Aufständische und mehr als 700 sowjetische Soldaten.
Nach der Niederschlagung des Aufstands wurden mindestens 12.000 Menschen als „Konterrevolutionäre“ zu Haftstrafen verurteilt, mehrere Hundert wurden hingerichtet – darunter auch Imre Nagy. 200.000 Ungarn flohen in westliche Länder.
Viele Ungarn hatten den Freiheitskampf in der naiven Hoffnung auf ein westliches Eingreifen geführt, die nicht zuletzt vom US-Sender Radio Freies Europa genährt wurde. Doch auf militärische Hilfe aus dem Westen warteten die Aufständischen vergebens. Die USA wollten keine militärische Eskalation zwischen den Großmächten riskieren.
Auch einige DDR-Bürger bekundeten ihre Unterstützung für den ungarischen Volksaufstand mit unterschiedlichen Aktionen. Aus Angst vor einem Übergreifen der Proteste auf die DDR gingen die SED-Führung und das Ministerium für Staatsicherheit mit Repressionen gegen Sympathisanten des ungarischen Volksaufstandes vor.
Im Vorprogramm der Kinos in der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin berichtete die Wochenschau über den ungarischen Volksaufstand. Da die Sektorengrenze in Berlin noch offen war, erfuhren auf diesem Weg auch Menschen aus Ost-Berlin und aus der ganzen DDR von den Ereignissen in Ungarn.
Viele Menschen in der DDR bemühten sich um Zugang zu westlichen Medien, die sie als glaubwürdiger und vielfältiger empfanden. Zeitschriften und Zeitungen aus der Bundesrepublik und anderen westlichen Demokratien waren allerdings für die meisten Bürger unerreichbar, denn sie galten der DDR-Propaganda als „Schund und Schmutz“ und waren nirgends erhältlich. Zumindest einzelne bundesdeutsche Radiosender konnten dagegen überall in der DDR empfangen werden. Die Reichweite des „Westfernsehens“ war deutlich begrenzter, so dass nur ein Teil der Bevölkerung Westnachrichten und andere Sendungen sehen konnte. Der DDR-Volksmund löste die Abkürzung ARD mit „Außer Raum Dresden“ auf, die Gegend um die sächsische Elbmetropole wurde als „Tal der Ahnungslosen“ verspottet.
Noch in den 1960er Jahren versuchte die SED den Empfang westlicher Programme mit technischen Mitteln zu verhindern, vor allem den Radiosender RIAS, den die amerikanische Besatzungsmacht 1946 als Gegenstück zum sowjetisch kontrollierten Berliner Rundfunk gegründet hatte. Mitte der 1980er Jahre hatte die politische Führung in der DDR ihre Strategie verändert und genehmigte beispielsweise den Bau von Gemeinschaftsantennen, um die Bevölkerung durch Verbesserung des „Westempfangs“ zu besänftigen. Angehörigen der Sicherheitsorgane war der Empfang westlicher Sender allerdings bis zur Auflösung der DDR verboten, auch unter SED-Funktionären blieben sie offiziell verpönt.
Trotz ihrer eingeschränkten Verfügbarkeit war der Einfluss westlicher Medien auf die DDR-Gesellschaft groß, denn sie durchbrachen das Nachrichtenmonopol der SED. Auch zensierte Nachrichten verbreiteten sich unter der Hand schnell. Als Ergebnis des Grundlagenvertrags beider deutscher Staaten wurden ab 1973 in der DDR auch Korrespondenten westlicher Medien akkreditiert. Zusammen mit Diplomaten bildeten sie ein zunehmend wichtiges Kontaktnetzwerk für oppositionelle DDR-Bürger.
Besondere Bedeutung erlangten Westmedien für die Menschen in der DDR immer dann, wenn sie unzensierte Informationen über Proteste im Inland und in den anderen sozialistischen Staaten verfügbar machten: Dies war während des DDR-Volksaufstandes 1953 genauso der Fall wie während des ungarischen Volksaufstands 1956, anlässlich des „Prager Frühlings“ 1968 und im Herbst 1989, als Demonstrationen und Fluchtströme die SED-Diktatur ins Wanken brachten. Während die DDR-Zeitungen beispielsweise die Leipziger Montagsdemonstranten im September 1989 noch als „kriminelle Rowdys“ beschimpften, konnte die DDR-Bevölkerung etwa über den gut zu empfangenden Deutschlandfunk authentische Berichte über die Lage hören.
Nach den Schweigeminuten vergingen mehrere Tage ohne sichtbare Reaktion seitens der Lehrer. Am 10. November 1956 rief der Schulleiter Georg Schwerz dann einzelne Schüler in sein Büro, darunter Karsten Köhlers Freund Dietrich Garstka. Dort wurden sie vom Kreisschulinspektor befragt – im Beisein ihres Geschichtslehrers, des Partei- und FDJ-Sekretärs der Schule. Die Parteifunktionäre wollten durch Manipulation herausfinden, wer die Anstifter der Schweigeminuten waren und welches Ziel sie verfolgten. Doch die Jugendlichen blieben bei der vorab vereinbarten Erklärung: Sie hätten ausschließlich aus Sportsgeist und Trauer um den angeblich in Ungarn ums Leben gekommenen Fußballer Ferenc Puskás geschwiegen, und zwar als gemeinschaftliche Aktion.
Nach einer sehr emotionalen Aussprache mit der Klasse erteilte der Schulleiter dem gesamten Abiturjahrgang eine Rüge. Die Aktion der Klasse beschäftigte neben dem Lehrerkollegium und dem Kreisschulamt mittlerweile auch die Kreisleitung der SED in Beeskow. Diese forderte von der Schulleitung weitergehende Konsequenzen. Die Schüler bekamen davon jedoch zunächst nichts mit.
Der DDR-Volksbildungsminister Fritz Lange im Jahr der Storkower Schweigeminuten
Brief des Ministers für Volksbildung der DDR vom 18. Dezember 1956 an die Leiterin der Abteilung Volksbildung des Bezirksrates Frankfurt (Oder).
BLHA Rep. 730 SED-Bezirksleitung Frankfurt / Oder, Nr. 1025, Blatt 34f.
Nachdem der Volksbildungsminister die Angelegenheit an sich gezogen hatte, befragten Parteifunktionäre der Bezirksleitung Frankfurt (Oder) einzelne Schüler zu Hause. Sie drängten die Jugendlichen dazu, einen Mitschüler als Rädelsführer zu benennen, und hatten offenbar bereits Karsten Köhlers Freund Dietrich Garstka im Visier. Den Jugendlichen wurde bewusst, dass ein glimpflicher Ausgang nicht zu erwarten war. Am 20. Dezember 1956 verhörten die Parteifunktionäre in der Schule jeden einzelnen aus der Klasse 12b – bis auf Dietrich Garstka, der schon den zweiten Tag in Folge fehlte.
Am 21. Dezember 1956 schloss die Leiterin der Abteilung Volksbildung des Bezirksrates Frankfurt (Oder) die Klasse 12b der Oberschule Storkow vom Abitur und jedem weiteren Schulbesuch in der DDR aus und verwies sie des Schulgeländes.
Mit dem Ausschluss vom weiteren Schulbesuch in der gesamten DDR wurden Karsten Köhler und seine Mitschüler wenige Tage vor Weihnachten aus der Abiturvorbereitung gerissen. Sie sahen einer ungewissen Zukunft entgegen: Der Weg zum Studium war verbaut und sie mussten jederzeit mit weiteren staatlichen Repressionen rechnen. Kurz zuvor war Karsten Köhlers Freund Dietrich Garstka bereits als erster aus der Klasse in die Bundesrepublik geflohen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg passierten zunächst noch Millionen Menschen die Grenze zwischen der sowjetischen und den westlichen Besatzungszonen Deutschlands. Ab dem Sommer 1946 bedurfte es dazu sogenannter Interzonenpässe, welche die zuständige sowjetische Militäradministration nur selten ausstellte. Diese „grüne Grenze“ wurde jedoch vorerst kaum bewacht. Schmuggel und illegaler Grenzverkehr gehörten zum Alltag. Auch über Berlin konnte man die Westzonen noch erreichen.
Ein Jahr nach der Gründung der beiden deutschen Staaten richtete die DDR im Jahr 1950 erste offizielle Kontrollpunkte ein. Wegen verstärkter innerdeutscher Spannungen erhielten die DDR-Behörden im Frühjahr 1952 von der sowjetischen Besatzungsmacht genaue Anweisungen zum Ausbau und zur strengeren Überwachung der innerdeutschen Grenze. Reiseverkehr zwischen DDR und Bundesrepublik war fast nur noch über Berlin möglich, wo die Sektorengrenzen zwischen dem Ost- und dem Westteil der Stadt zunächst offen blieben. Allerdings versuchte die DDR-Führung in der Folgezeit die Kontakte zwischen den Bewohnern der beiden Stadthälften weiter einzuschränken. Republikflucht galt in der DDR ab Ende 1954 als Straftat.
Doch durch Strafandrohung ließen sich Hunderttausende mehrheitlich junge Menschen nicht von der Flucht über Berlin abhalten. Die Fluchtbewegung wurde für die DDR zunehmend zum Problem. Die SED drängte im Sommer 1961 die Sowjetunion, ihre völkerrechtliche Mitverantwortung für Berlin zu nutzen und konkrete Maßnahmen zur Eindämmung des Flüchtlingsstroms nach West-Berlin zu ergreifen. Schließlich überzeugte die Führung der DDR die Sowjetunion, einer Abriegelung der westlichen Sektoren Berlins zuzustimmen, um ein „Ausbluten” der DDR zu verhindern.
In der Nacht vom 12. auf den 13. August 1961 errichteten Bauarbeiter unter polizeilichem und militärischem Schutz in Berlin zunächst provisorische Sperranlagen aus Stacheldraht, die nach und nach durch eine feste Mauer ersetzt wurden. Bis Mitte September gelang noch mehr als 600 Menschen mit zum Teil waghalsigen Aktionen die Flucht nach West-Berlin. Unter ihnen waren ganze Familien, aber auch einige Grenzposten. Der eigenen Bevölkerung gegenüber rechtfertigte die SED-Führung den Bau der Mauer als eine Verteidigungsmaßnahme gegen den äußeren Feind und bezeichnete sie als „antifaschistischen Schutzwall”. Auch die innerdeutsche Grenze wurde am 13. August 1961 endgültig geschlossen und in der Folgezeit immer stärker militärisch ausgebaut.
Fünf Jahrzehnte nach seiner Flucht beschrieb Karsten Köhlers Mitschüler Dietrich Garstka seine Flucht für sein dokumentarisches Buch „Das schweigende Klassenzimmer“:
„Nach zwei Stunden weckte ihn seine Mutter. Er war schnell fertig. Um die Flucht glaubhaft zu machen, sprang er aus der Loggia, die vom Wohnzimmer aus erreichbar war, in den Vorgarten, die Hacken tief in die dünne Schneedecke gedrückt, stapfte Spuren zum Zaun, den er überkletterte, auf die Gerichtsstraße hinaus.
Er schaute zurück zur Loggia, Vater und Mutter standen dort und winkten ihm verhalten zu, er winkte nicht, weil er nicht hinter die Straßenbäume schauen konnte. Schauen und Lauschen. Er sah noch, wie der Vater seinen Arm um die Schulter der Mutter legte. Er sah es nicht, aber er wusste, dass sie beide weinten. Schmerz und Trauer schlichen ihm durch die Dunkelheit nach. Mit jedem Schritt wuchs die Angst, schon auf dem Weg zum Bahnhof gestellt zu werden. Unter seinen Sohlen knarrte der endgültige Abschied auf dünnem Schnee über hart gefrorenem Sand. Die drei jüngeren Geschwister hatten nichts gemerkt, sie schliefen.
Die Abteile des Frühzuges nach Königs Wusterhausen waren dicht besetzt. Pendler aus dem Kreis Beeskow fuhren mit ihm zur Arbeit nach Berlin oder in die östlichen Vorstädte. In ihren ausgebeulten Joppen, ihrem klobigen Schuhwerk fuhr die Arbeit schon mit, ihre Köpfe lehnten an den Seiten- oder Rückwänden ihrer Sitze und wackelten im Takt des fahrenden Zuges zwischen Wachen und Schlafen. Nur einer, der Dietrich gegenüber saß, musterte ihn und seine etwas feinere Westkleidung, die unter seiner Joppe hervorlugte. Er blieb stumm, überließ schließlich auch seinen Kopf dem rhythmischen Pendeln von links nach rechts, die Spannung in Dietrich ließ nach. In Königs Wusterhausen stieg er in die S-Bahn um. Auf dem Bahnhof Eichwalde stand der Zug planmäßig lange, weil Grenzpolizisten die Ausweise kontrollierten. Anspannung, Angst: Jetzt kommen sie, und aus ist es. Keine Beanstandungen. Der Zug fuhr an, das vertraute ratternde Summen der Großstadtbahn hatte ihn aufgenommen. Der letzte Bahnhof im Osten, Friedrichstraße, war erreicht. Die Minute des Aufenthalts dehnte sich in seinem Gefühl der Angst zu einem Bahnhof ohne Ende. Ertappt werden oder nicht, Republikflucht war verboten. Er stellte sich müde, nahm die Haltung eines Schlafenden an. Die S-Bahn fuhr an, ihre Bewegung war Erlösung. In wenigen Minuten war der Lehrter Bahnhof erreicht, der erste Bahnhof im Westen. Aussteigen, langsam gehen, nicht auffallen, das Bahnhofsgelände war noch Gebiet der DDR, Treppe abwärts, durch die enge Passage der Bahnhofssperre, jetzt losrennen bis auf den Bürgersteig. Er war im Westen.“
Erinnerungsbericht DIETRICH GARSTKAS, ZITIERT NACH: Dietrich Garstka, Das Schweigende Klassenzimmer, Berlin 2018, S. 108ff.
Zwischen 1949 und 1989 flohen etwa drei Millionen Menschen aus der DDR in die Bundesrepublik und nach West-Berlin, davon ungefähr 90 Prozent in den zwölf Jahren vor dem Mauerbau 1961.
Im Jahr 1953 erreichte die Fluchtbewegung ihren Höhepunkt – mehr als 331.000 Menschen verließen das Land in Richtung Westen. Ihre Fluchtgründe waren vielfältig. Die meisten waren enttäuscht von der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung des Landes und frustriert angesichts des im Sommer 1952 von der SED verkündeten „Aufbau des Sozialismus“ mit seinen drastischen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Folgen. Viele Bürger hatten durch die gewaltsame Niederschlagung des Volksaufstandes am 17. Juni 1953 jede Hoffnung auf Veränderungen verloren oder flohen aus Angst vor Repressionen, weil sie sich am Aufstand beteiligt hatten.
Eine weitere Explosion der Fluchtzahlen zeichnete sich im Jahr 1961 ab. Allein bis zur Grenzschließung am 13. August flohen rund 155.000 Menschen, unter anderem aufgrund von Enteignungen und Zwangskollektivierungen in der Landwirtschaft. Mit dem Mauerbau vermochte die SED-Führung die Fluchtbewegung einzudämmen, aber nicht zu stoppen: Bis zum Jahresende 1961 gelang noch mehr als 50.000 Menschen die Flucht.
In den Folgejahren baute die DDR die Grenzanlagen immer weiter aus. Die Zahl der erfolgreichen Fluchten sank ab diesem Zeitpunkt stetig, und die staatlichen Organe der DDR vereitelten Jahr für Jahr eine deutliche Mehrheit der Fluchtversuche. Ab Mitte der 1980er Jahre stiegen die Zahlen wieder, vor allem weil aufgrund von Lockerungen der Reisevorschriften immer mehr DDR-Bürger Verwandte in der Bundesrepublik besuchen durften. Viele von ihnen entschieden sich gegen eine Rückkehr in die DDR.
1989 kam es erneut zu deutlich mehr Fluchten als in den Vorjahren, vorwiegend über die ungarisch-österreichische Grenze nach dem Abbau der dortigen Grenzanlagen und über die bundesdeutschen Botschaften in Budapest, Warschau und Prag. Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) registrierte allein zwischen Januar und Anfang Oktober 1989 mehr als 50.000 gelungene Fluchten. Die Massenflucht 1989 trug entscheidend zum Zusammenbruch der SED-Diktatur bei.
Schlendern der Storkower Abiturienten in den ersten Januartagen 1957 durch eine Straße nahe der Flüchtlingsunterkunft in Berlin-Zehlendorf für ein Pressefoto
ULLSTEIN BILD / DPA
Nach ihrer Registrierung im West-Berliner Notaufnahmelager Marienfelde wurden die Storkower Schüler in eine Unterkunft für geflüchtete Jugendliche in Berlin-Zehlendorf verlegt. Dort erhielten sie viel mediale Aufmerksamkeit, da die Flucht einer ganzen Schulklasse selbst in der massiven Fluchtbewegung der 1950er Jahre nicht alltäglich war. Auch Beobachter in der DDR nahmen diese öffentliche Berichterstattung wahr. Für die Jugendlichen wurde dies zur Gefahr.
Wer in der DDR von der Stasi sprach, meinte damit das 1950 gegründete Ministerium für Staatssicherheit. Über Jahrzehnte ließ die SED-Führung das MfS zu einem flächendeckenden Überwachungs-, Manipulations- und Unterdrückungsapparat ausbauen, der ihren totalen Herrschaftsanspruch gegenüber der eigenen Bevölkerung sichern sollte. Das MfS richtete seine Aktivitäten nicht nur gegen die Bürger der DDR, sondern auch gegen die Bundesrepublik Deutschland als Staat sowie gegen Menschen und Organisationen im Ausland, die sich für die Einhaltung der Menschenrechte in der DDR einsetzten.
Das MfS war politische Geheimpolizei, Ermittlungsbehörde bei politischen Straftaten und Nachrichtendienst in einem. Dadurch besaß es umfassende Aufgaben und Kompetenzen, die keiner Kontrolle unterlagen. Lediglich die SED-Führung war gegenüber dem MfS weisungsberechtigt. Das MfS verstand sich als „Schild und Schwert der Partei“ und definierte diese Rolle in stalinistischer Tradition sehr weitreichend. Seine Mitarbeiter verfolgten nicht nur tatsächlich begangene „Taten“, sondern versuchten als eine Art „Ideologiepolizei” auch vorbeugend zu handeln. So zielte das MfS in den 1970er und 1980er Jahren auf eine möglichst flächendeckende Überwachung aller potenziellen Gegner und versuchte, oppositionelle Aktionen schon im Vorfeld zu verhindern. Dazu öffnete das MfS Briefe verdächtiger Personen, hörte ihre Telefonate ab und ließ sie durch zahlreiche hauptamtliche und inoffizielle Mitarbeiter umfassend bespitzeln.
Auf diese Weise überwachten die Mitarbeiter des MfS das Leben und Verhalten der Menschen vom Beruf bis zur Intimsphäre. Dazu setzten sie alle zur Verfügung stehenden Mittel ein und wurden teils durch andere Institutionen wie Schulen, Betriebe und Gewerkschaften unterstützt. Gleichzeitig entwickelten sie Maßnahmenpläne, welche die „Zersetzung“ bestimmter Personen zum Ziel hatten.
Unter „Zersetzung“ verstand das MfS die „Zersplitterung, Lähmung, Desorganisierung und Isolierung feindlich-negativer Kräfte“. Der Betroffene sollte am Arbeitsplatz und in seinen persönlichen Beziehungen isoliert und diskreditiert werden, ohne das planvolle Handeln dahinter zu durchschauen. Das MfS stützte sich dabei auf Erkenntnisse der „operativen Psychologie“. Beispielsweise lösten inoffizielle Mitarbeiter gezielt interne Streitigkeiten in oppositionellen Gruppen aus, um sie von politischen Aktivitäten abzulenken.
Im Zuge des Zusammenbruchs der SED-Diktatur 1989/90 wurde das MfS am 18. November 1989 in Amt für Nationale Sicherheit umbenannt, schrittweise entmachtet und schließlich am 31. März 1990 aufgelöst. Seit 1992 dürfen Betroffene die Akten einsehen, die das MfS über sie angelegt hatte. Viele Menschen erfuhren erst bei ihrer Akteneinsicht vom Ausmaß der Überwachung, zum Teil durch Freunde oder engste Angehörige.
Am 01. Januar 1957 brachte der West-Berliner Tagesspiegel einen ausführlichen Bericht über die Schweigeminute der Storkower Abiturklasse und über ihre Flucht. Auch andere Zeitungen berichteten über den Vorfall.
Verlag der Tagesspiegel GmbH
Neben den Medien interessierten sich mehrere Politiker für das Schicksal der jungen DDR-Flüchtlinge. Der Berliner Kultursenator Joachim Tiburtius bot ihnen an, das Abitur im Klassenverband in West-Berlin nachholen zu können, aber die Jugendlichen fühlten sich dort nicht sicher. Noch im Januar flog die Klasse nach Frankfurt am Main und fuhr von dort aus weiter nach Bensheim, wo sie ihr Abitur ablegen konnten.
Auch am neuen Wohnort erhielten die Jugendlichen viel Unterstützung. Dennoch wurde vielen von ihnen nach den aufregenden Wochen der Verlust ihrer Heimat und die Trennung von ihren Familien schmerzlich bewusst.
Die Erinnerung an den Moment des endgültigen Passierens der innerdeutschen Grenze ist für die meisten ehemaligen DDR-Bürger mit großen Emotionen verbunden – egal ob es sich um eine Ausreise nach einem genehmigten Antrag, eine gefährliche Flucht oder einen Freikauf aus der politischen Haft handelte. Viele hatten Jahre der Angepasstheit und Unterdrückung hinter sich, nicht selten auch der Angst vor realer oder befürchteter Verfolgung durch die DDR-Sicherheitsorgane.
Für geflüchtete, freigekaufte und übergesiedelte Bürger aus der DDR galt es schon bald nach ihrer Ankunft in der Bundesrepublik neue Herausforderungen zu meistern. Sie mussten sich in einem fremden politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen System zurechtfinden, eine bezahlbare Wohnung und Arbeitsstelle finden, diverse Behördengänge erledigen und sich um die Anerkennung von Studien- und Berufsabschlüssen kümmern – oft ohne Erfolg. Auch materiell standen die meisten von ihnen zunächst mit leeren Händen da, denn bei ihrer Ausreise konnten sie kaum persönlichen Besitz und nicht einmal Unterlagen oder Erinnerungsstücke mitnehmen.
Für Eltern war die Situation besonders belastend, da sie nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihre Kinder ein neues Leben aufbauen mussten – zunächst ohne Freunde und in einem anderen Schulsystem. Wer Familienangehörige zurückgelassen hatte oder bei der Inhaftierung von ihnen getrennt worden war, lebte bis zu einer Familienzusammenführung oder sogar dauerhaft in quälender Ungewissheit über die Verwandten jenseits der Grenze.
Für die meisten Geflüchteten führte der Weg zunächst in ein staatliches Notaufnahmelager wie in Berlin-Marienfelde oder im hessischen Gießen. Wer Glück hatte, fand schon bald bei Verwandten oder Freunden Zuflucht. Doch auch dies konnte zu Konflikten führen: Nach Jahren oder Jahrzehnten ohne engen persönlichen Kontakt lebten sie plötzlich auf knappen Raum und mussten mit komplett unterschiedlichen Erfahrungen und Vorstellungen vom Leben zurechtkommen.
Die Integration der Übersiedler und Flüchtlinge erwies sich für die Ankommenden, aber auch für die aufnehmende Gesellschaft als Belastungsprobe. Die Neuankömmlinge aus der DDR waren nach dem Grundgesetz deutsche Staatsbürger und damit den Bundesbürgern gleichgestellt. Dies betraf auch Ansprüche auf Sozialversicherungsleistungen wie Renten, Kranken- oder Arbeitslosengeld, welche allerdings ohne jegliche Unterlagen schwer zu ermitteln waren. Wohlfahrtsverbände und Hilfsorganisationen unterstützten die Übersiedler bei der Eingliederung.
Viele ehemalige DDR-Bürger berichten jedoch auch, dass sie aufgrund ihrer Herkunft oder ihres Dialekts, teils auch wegen ihrer politischen Haft, Skepsis, Misstrauen und offene Ablehnung erlebten. Andere redeten aus Angst vor Unverständnis, Diskriminierung und beruflicher Nachteile lange Zeit nicht über ihre DDR-Vergangenheit oder über ihre vergangene Inhaftierung. Für die politische Inhaftierung sind sie rehabilitiert, traumatisierende Erinnerungen an Repression, Flucht und Inhaftierung sind jedoch vielfach unaufgearbeitet und verfolgen die Menschen bis ins hohe Alter.
Die Abiturklasse posierte im Frühjahr 1957 vor ihrer neuen Schule, dem Aufbaugymnasium Bensheim. Karsten Köhler ist mittig im geblümten Pullover zu sehen.
STADTARCHIV BENSHEIM, FOTOSAMMLUNG, FOTOGRAF: W. SCHERMER
Vierzig Jahre nach den Ereignissen vom Herbst 1956 kehrten die Abiturienten von damals für ein Klassentreffen nach Storkow in ihre alten Klassenräume zurück.
Im Jahr 2006 veröffentlichte Dietrich Garstka eine Dokumentation der Storkower Ereignisse in Buchform unter dem Titel „Das schweigende Klassenzimmer“. Unter dem gleichen Titel kam die Geschichte zwölf Jahre später als Spielfilm auf die Leinwand und fand dort ein breites Publikum. Dietrich Garstka erlebte diesen Erfolg nicht mehr, er verstarb zwei Wochen nach der Premiere am 18. April 2018.
Karsten Köhler lebt heute wieder in der Nähe seiner Heimat im brandenburgischen Luckau. Er nimmt regelmäßig als Podiumsgast an Diskussionsveranstaltungen in ganz Deutschland und in Ungarn teil, erzählt als Zeitzeuge Jugendlichen seine Geschichte und beantwortet ihre Fragen.
Das Interview mit Karsten Köhler wurde im September 2019 durch Mitarbeiter des Menschenrechtszentrums Cottbus in der Gedenkstätte Zuchthaus Cottbus geführt und aufgezeichnet.
Wir danken Karsten Köhler, Frauke Hoffmann und ihrem verstorbenen Mann Dietrich Garstka, dem Brandenburgischen Landeshauptarchiv, dem Bundesarchiv, der Lausitzer Rundschau, dem Stadtarchiv Bensheim, dem Tagesspiegel, dem Ullstein Verlag, der Nachrichtenagentur dpa und allen weiteren Rechteinhabern herzlich für die Erlaubnis zur Nutzung der Fotos, Interviewclips und Dokumente für das Projekt NUR FORT VON HIER.